Schmer­zen ver­ste­hen und bewältigen

Schmer­zen kön­nen Angst machen. Emp­fin­den wir Men­schen Schmer­zen, ist das zunächst mal ein mehr oder weni­ger unan­ge­neh­mes Gefühl. Und in der Folge häu­fig der Grund dafür, dass wir uns Gedan­ken dar­über machen, ob oder zumin­dest wann ich mei­nen All­tag oder mei­nen Sport wie­der unein­ge­schränkt aus­füh­ren kann. Ängste davor, bestimmte Bewe­gun­gen aus­zu­füh­ren, weil sie wie­der zu Schmer­zen füh­ren könn­ten oder kata­stro­phi­sie­rende Gedan­ken sind Phä­no­mene, die die Bewäl­ti­gung von Schmer­zen zu einer sehr her­aus­for­dern­den Auf­gabe machen kön­nen oder gar dazu füh­ren, dass sich Men­schen schlicht­weg mit ihren Schmer­zen abfinden.

Eine ganz wich­tige Sache will ich Dir aber jetzt schon mit­ge­ben: Schmer­zen kön­nen ver­schwin­den, Du musst nicht ein­fach mit ihnen leben! Lass uns dafür etwas genauer mit dem Sinn und Zweck von Schmerz beschäf­ti­gen. An sich ist es ein für den Kör­per abso­lut not­wen­di­ges Signal: ein über­zeu­gen­der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­weg des Gehirns, Dir (also Dei­nem Bewusst­sein) mit­zu­tei­len, dass Du etwas ver­än­dern sollst, weil es eine Art von Bedro­hung oder Gefahr wahr­nimmt! Und das ist doch eigent­lich ziem­lich cle­ver. Es hilft Dir, zu reagie­ren, bevor wirk­lich etwas pas­siert. Es bedeu­tet also nicht auto­ma­tisch, dass etwas kaputt ist, inso­fern, dass ein gra­vie­ren­der struk­tu­rel­ler Scha­den vor­liegt. Und die­ser Punkt ist sooo wich­tig, wenn es um die Bewäl­ti­gung von Schmer­zen geht. Lerne, Deine Schmer­zen zu ver­ste­hen. Erst dann kannst Du auch gezielt Ein­fluss dar­auf nehmen!

Fak­to­ren der Schmerzentstehung

Zuerst lass uns einen Blick dar­auf wer­fen, wel­che Ein­flüsse aus der Umwelt und aus dem Kör­per­in­ne­ren die Ent­ste­hung von Schmerz begüns­ti­gen kön­nen. In man­chen Fäl­len, z.B. wenn Du Dich irgendwo stößt, gibt es eine klare Ursa­che für den Schmerz. Aber selbst bei die­sem Bei­spiel reagie­ren Men­schen mit unter­schied­li­chem Emp­fin­den auf ein und den­sel­ben Reiz. Und wieso? Weil eben ganz viele andere Fak­to­ren die Ent­ste­hung und das Emp­fin­den von Schmerz beein­flus­sen. Die fol­gende Abbil­dung von Cho­le­wi­cki et al. aus dem Jahr 2019 wird Dich viel­leicht etwas erschla­gen und Du magst nicht alles lesen kön­nen. Aber darum geht es auch nicht. Was sie dar­stellt ist, dass sich indi­vi­du­elle, psy­cho­so­ziale, neu­ro­nale, phy­si­sche, bio­me­cha­ni­sche und patho­lo­gi­sche Fak­to­ren sowie die Lebens­be­din­gun­gen gegen­sei­tig beein­flus­sen und als Trei­ber für Schmerz und Ein­schrän­kun­gen fun­gie­ren können.

Fak­to­ren der Schmerzentstehung

Und das sind wahn­sin­nig viele Mög­lich­kei­ten. Bekommst Du eine Idee davon, warum eine rein kör­per­li­che Betrach­tungs­weise von Schmerz ein­fach kei­nen Sinn macht? Im nächs­ten Abschnitt beschäf­ti­gen wir uns damit, wieso all diese Fak­to­ren eine so wich­tige Rolle spie­len und klä­ren, wie Schmerz über­haupt entsteht.

Das Gehirn und der Eimer

Um Schmerz wahr­neh­men zu kön­nen braucht es einen Sti­mu­lus (vgl. Hoegh 2022). Das kann über einen peri­phe­ren Nerv gesche­hen, wie im erwähn­ten Bei­spiel beim Sto­ßen an einer Kante oder Ähn­li­chem. Ob die­ser Reiz aber tat­säch­lich zu einem wahr­nehm­ba­ren Schmerz führt, ent­schei­det erst das Gehirn auf Grund­lage sei­ner vor­lie­gen­den Infor­ma­tio­nen. Es fun­giert dabei wie ein Gefah­ren­fil­ter und bezieht Infor­ma­tio­nen aus der Umge­bung, dem Kör­per­in­ne­ren und der Bewe­gung mit ein. Es spie­len aber auch frü­here Erfah­run­gen, Erin­ne­run­gen und Erwar­tun­gen eine Rolle. Wenn Du Dich bei einer bestimm­ten Bewe­gung schon­mal ver­letzt hast, kann das nega­tive Aus­wir­kun­gen auf das zukünf­tige Schmerz­emp­fin­den haben. Schau Dir dazu auch gerne mei­nen Blog­bei­trag zu Safety first – so arbei­tet das Gehirn an.

Du kannst Dir das wie einen Eimer vor­stel­len, der sich mit Was­ser füllt und irgend­wann über­läuft. Je mehr Fak­to­ren aus der oben gezeig­ten Abbil­dung Dei­nen Kör­per stres­sen, desto vol­ler wird Dein Eimer. Ist er voll und läuft über, wird Dein Gehirn Schutz­me­cha­nis­men ergrei­fen, um Dich dazu zu brin­gen etwas zu ver­än­dern. Und einer die­ser Schutz­me­cha­nis­men ist Schmerz! Schmerz ist also eine Ent­schei­dung des Gehirns. Nozi­zep­tion, also Reize von Ner­ven­bah­nen, die Gefah­ren­si­gnale sen­den, muss dem­nach nicht zwangs­läu­fig dazu füh­ren, dass Du Schmer­zen emp­fin­dest. Ein gro­ßes Review von Brin­jikji et al. aus dem Jahr 2015 zu dege­ne­ra­ti­ven Ver­än­de­run­gen in der Len­den­wir­bel­säule ver­deut­licht das. In der Gra­fik ist das Auf­tre­ten dege­ne­ra­ti­ver Ver­än­de­run­gen wie Vor­wöl­bun­gen oder Band­schei­ben­vor­fälle bei völ­lig asym­pto­ma­ti­schen Pro­ban­den zu sehen. Bei etwa einem Drit­tel aller 40 jäh­ri­gen Pro­ban­den wur­den Band­schei­ben­vor­fälle dia­gnos­ti­ziert. Und sie hat­ten kei­ner­lei Schmerzen!

Die Ver­lo­ckung zu ver­mei­den und zu schonen

Dege­ne­ra­tive Ver­än­de­run­gen sind völ­lig nor­mal und las­sen sich mit­un­ter gar nicht ver­mei­den. Allein die Kennt­nis davon, wenn der Arzt Dir MRT-Bil­der Dei­ner Wir­bel­säule zeigt und Dir erklärt, dass Deine Band­schei­ben an der und der Stelle nicht mehr so gut aus­se­hen oder vor­ge­wölbt sind, kann zu nega­ti­ven Gedan­ken, Angst und Sor­gen füh­ren und Dei­nen Eimer wei­ter fül­len. Mach Dir bitte unbe­dingt bewusst: Es gibt eine Viel­zahl an Men­schen, deren Struk­tu­ren dege­ne­ra­tiv ver­än­dert sind, und sie haben keine Schmer­zen! In den fol­gen­den Kapi­teln werde ich Dir Wege auf­zei­gen, was Du gegen Deine Schmer­zen tun kannst.

Zunächst soll es aber noch um zwei Dinge gehen, die Du bei Schmer­zen NICHT tun soll­test. Bewe­gun­gen kom­plett ver­mei­den, von denen Du denkst, dass sie Schmer­zen ver­ur­sa­chen und Dich bei Schmer­zen aus­schließ­lich zu scho­nen. Dein Gehirn braucht die Bewe­gungs­er­fah­rung, vor allem in ver­meint­lich gefähr­li­chen Posi­tio­nen. Diese, natür­lich zunächst kon­trol­lier­ten und vor­sich­ti­gen Bewe­gun­gen sind extrem wich­tig, um Dei­nem Sys­tem Sicher­heit zu ver­mit­teln. Nur dann hast Du die Chance, dass Du diese Bewe­gun­gen auch wie­der schmerz­frei und ohne Angst aus­füh­ren kannst. Grund­sätz­lich gibt es keine schlechte oder fal­sche Bewe­gun­gen, das Heben mit krum­mem Rücken, das Vor­schie­ben der Knie über die Fuß­spit­zen beim Knie­beu­gen… Es gibt KEI­NEN wis­sen­schaft­li­chen Nach­weis, dass diese Bewe­gun­gen dem Kör­per scha­den, auch wenn das jah­re­lang gelehrt wurde! Gino Laz­z­aro beschreibt es in sei­nem Schmerz­kurs sehr einprägsam: 

…es gibt ledig­lich Bewe­gun­gen oder Belas­tun­gen, für die dein Kör­per noch nicht wider­stands­fä­hig genug ist.

Https://performperfect.de/gratis/schmerz-kurs.

Sein Email-Kurs ist übri­gens kos­ten­los und Du kannst Dich bei Inter­esse ein­fach anmelden.

Aktu­elle For­schungs­er­geb­nisse aus den Neu­ro­wis­sen­schaf­ten unter­stüt­zen die These, sich auch bei Schmer­zen wei­ter zu bewe­gen, um eine Chro­ni­fi­zie­rung zu ver­mei­den (vgl. Büchel, 2022). Unsere Vor­fah­ren konn­ten es sich nicht leis­ten, sich bei Schmer­zen zu scho­nen. Sie muss­ten über­le­bens­wich­tige Akti­vi­tä­ten wie die Nah­rungs­su­che fort­set­zen. Mög­lich war das durch ein schmerz­hem­men­des Sys­tem im ZNS und Gehirn, das in sol­chen Extrem­si­tua­tio­nen den Schmerz modu­lie­ren konnte. Die­ses Sys­tem besit­zen wir auch heute noch, aller­dings haben sich die Vor­aus­set­zun­gen grund­le­gend ver­än­dert. Eine län­gere Inak­ti­vi­tät bei Schmer­zen hat keine erkenn­ba­ren nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen mehr auf das Über­le­ben. Das Schmerz­mo­du­lie­rende Sys­tem kann so seine auch prä­ven­tive Wir­kung nicht mehr ent­fal­ten und die Ent­ste­hung chro­ni­scher Schmer­zen wird durch Inak­ti­vi­tät begünstigt.

Schmer­zen bewältigen

Aus­ge­hend von die­sem Wis­sen, was kannst Du nun kon­kret gegen Deine Schmer­zen tun? Allein das Wis­sen dar­über, wie Schmer­zen ent­ste­hen, was er bedeu­tet und was alles Ein­fluss auf die Wahr­neh­mung von Schmerz hat, kann Schmer­zen redu­zie­ren. Du wirst Ängste abbauen, Miss­ver­ständ­nisse und fal­sche Schluss­fol­ge­run­gen ver­mei­den und ver­ste­hen, dass Schmer­zen ein kom­ple­xes Kon­strukt sind, die zunächst mal sogar posi­tiv sind, weil Dein Kör­per Dich schüt­zen möchte!

Die medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gung hier­zu­lande ist gut und kann vie­len Men­schen hel­fen. Es gibt aller­dings Situa­tio­nen, und die sind gar nicht so sel­ten, da kommt sie an ihre Gren­zen. Genau dann wenn es um Auf­klä­rung und Ver­mitt­lung ganz­heit­li­cher Behand­lungs­an­sätze geht. Und dazu gehört, selbst aktiv zu wer­den, ler­nen auf sei­nen Kör­per zu hören. Dabei ist es über­haupt nicht ver­werf­lich, nach Hilfe zu suchen. Sich auf die­sem Weg beglei­ten zu las­sen, kann Kraft und Sicher­heit geben. Drei Grund­sätze möchte ich Dir hier mit auf den Weg geben, die Du direkt beher­zi­gen und umset­zen kannst.

Finde Ven­tile für Dei­nen Eimer

So wie es Dinge gibt, die Dei­nen Eimer fül­len und Dei­nen Kör­per stres­sen, gibt es auch Dinge, die Dei­nen Eimer wie­der lee­ren kön­nen. Deine Auf­gabe ist es, Dinge zu fin­den, die Dein Ven­til öff­nen. Ein paar Bei­spiele dafür:

  • Gesunde Ernäh­rung
  • Ent­span­nungs­tech­ni­ken (wie Acht­sam­keit, Atmung, Medi­ta­tion usw.)
  • Aus­rei­chend Schlaf
  • Bewe­gungs­pau­sen (Spa­zier­gang, Aus­gleichs­übun­gen usw.)
  • Gesprä­che mit Freunden
  • Geziel­tes Trai­ning Dei­nes Ner­ven­sys­tems und betei­lig­ter Strukturen

Vie­les davon kannst Du sofort tun. Beob­achte Die Reak­tio­nen Dei­nes Kör­pers und suche Dir Dinge aus, die Du gerne tust! Das ver­stärkt den posi­ti­ven Effekt, es fällt Dir leich­ter dran zu blei­ben und diese Tech­ni­ken in Dei­nen All­tag zu integrieren.

Trai­niere genau die Bewe­gung, von der Du denkst, dass sie Schmer­zen ver­ur­sa­chen könnte

Für Dein Gehirn ist es von ent­schei­den­der Bedeu­tung, mög­lichst schmerz­freie Erfah­run­gen in kri­ti­schen Bewe­gungs­be­rei­chen zu machen um diese wie­der als „sicher“ ein­zu­stu­fen und Schutz­re­ak­tio­nen zu ver­mei­den. Bei bestehen­den Schmer­zen oder Gewe­be­schä­den kannst Du bei­spiels­weise das Aus­maß der Bewe­gung ver­rin­gern, lang­sa­mer bewe­gen, angren­zende Gelenk­an­teile mit ein­be­zie­hen. Kannst Du ein Gelenk gerade gar nicht bewe­gen, hilft es auch auf der gegen­über­lie­gen­den Seite zu üben! Dein Gehirn lernt davon und über­trägt diese Erfah­rung für zukünf­tige Bewe­gung der ein­ge­schränk­ten Seite.

Baue so schritt­weise Ängste vor Bewe­gung ab und wähle Belas­tun­gen, die die Wider­stands­fä­hig­keit Dei­nes Kör­pers nicht überschreiten.

Bewege Dich auch dann wenn Du Schmer­zen hast

Du erin­nerst Dich an die Evo­lu­ti­ons­theo­rie? Bewe­gung redu­ziert Schmer­zen! Auch hier gilt: finde Dein pas­sen­des Maß. Natür­lich gibt es Aus­nah­men (z.B. nach gra­vie­ren­den Ver­let­zun­gen), bei denen Du Dich scho­nen soll­test. Grund­sätz­lich aber sollte Bewe­gung vor Scho­nung gehen wenn es darum geht Schmer­zen zu bewäl­ti­gen und eine Chro­ni­fi­zie­rung zu vermeiden.

Auch wenn Deine Schmer­zen bereits chro­nisch sind, ist ein beweg­ter All­tag ein ganz wich­ti­ger Bau­stein im Bewäl­ti­gungs­pro­zess. Das ist zu Beginn nicht immer ange­nehm, kurz­zei­tig kön­nen sich Schmer­zen auch ver­stär­ken. Das sollte Dir bewusst sein und ich hoffe, dass Du diese Reak­tion Dei­nes Kör­pers jetzt auch nach­voll­zie­hen kannst. Immer­hin führst Du Dinge aus, die er über einen mehr oder weni­ger lan­gen Zeit­raum als Gefahr ein­ge­stuft hat und ent­spre­chend sen­si­bel reagiert. Schaue in etwas län­ge­ren Abstän­den, also alle ein bis zwei Wochen, auf wel­chem Level sich Dein Schmerz­emp­fin­den bewegt. Du kannst dafür eine Schmerz-Skala von 0 (kein Schmerz) bis 10 (sehr star­ker Schmerz) benut­zen. In die­sem Zeit­raum soll­ten die Schmer­zen nicht zunehmen.

Ich wün­sche Dir viel Erfolg bei der Umset­zung auf dem Weg zurück in einen schmerz­freien All­tag oder Sport. Soll­test Du Unter­stüt­zung benö­ti­gen, melde Dich jeder­zeit für ein kos­ten­lo­ses Beratungsgespräch.

Lite­ra­tur und Quellen

  • Büchel, Chris­tian. Pain per­sis­tence and the pain modu­la­tory sys­tem: an evo­lu­tio­nary mis­match per­spec­tive. PAIN: July 2022 – Volume 163 – Issue 7 – p 1274–1276. doi: 10.1097/j.pain.0000000000002522
  • Cho­le­wi­cki J, Breen A, Popo­vich JM Jr, Ree­ves NP, Sahr­mann SA, van Dil­len LR, Vlee­ming A, Hod­ges PW. Can Bio­me­cha­nics Rese­arch Lead to More Effec­tive Tre­at­ment of Low Back Pain? A Point-Coun­ter­point Debate. J Orthop Sports Phys Ther. 2019 Jun;49(6):425–436. doi: 10.2519/jospt.2019.8825. Epub 2019 May 15. PMID: 31092123; PMCID: PMC7394249.
  • Hoegh M. Pain Sci­ence in Prac­tice: What Is Pain Neu­ro­sci­ence? Part 1. Jour­nal of Ortho­pae­dic & Sports Phy­si­cal The­rapy 2022 52:4, 163–165. doi:10.2519/jospt.2022.10995
  • Laz­z­aro, Gino. Email-Schmerz­kurz. Https://performperfect.de/gratis/schmerz-kurs.
  • Photo by Eti­enne Bou­lan­ger on Uns­plash

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